In:
Belastung, Stress, Burnout – Therapie und
Prävention
Beiträge zur 27. Jahrestagung des
Arbeitskreises
Klinische Psychologie in der
Rehabilitation;
(Hrsg: Arbeitskreis Klinische
Psychologie in der Rehabilitation BDP)
Deutscher Psychologen Verlag GmbH
2008
Einleitung
In
allen alten Kulturen haben Menschen getanzt. Tanz war ein
wesentliches Medium, um Gemeinschaft zu erleben und das
Gemeinschaftsgefühl zu festigen. Ebenso wurde Tanzen als
Ritual benutzt, um sich mit der Natur zu verbinden und
die Lebenskräfte in Einklang mit natürlichen
Veränderungen wie Jahreszeiten zu bringen. Außerdem
wurden mit Tanz und Ritualen Übergänge im individuellen
Lebenszyklus und andere Themen gefeiert.
Die
Art von Tänzen war und ist auch immer Ausdruck
gesellschaftlichen Lebens und Erlebens. In Abgrenzung zu
Paartänzen und individuellem Ausdruckstanz finden heute
wieder mehr Menschen zu gemeinschaftsfördernden
Tanzformen wie Kreistänzen und Tanzritualen zurück.
Ziele dabei sind sowohl sozialer Natur
(Gemeinschaftserleben) wie hedonistischer Natur (Spaß
und Freude erleben) und mehr und mehr auch regenerativer
Natur: sich bewegen und entspannen, eigene Ressourcen
erneuern, einen Ausgleich zu kognitiven Anforderungen
finden. Dabei geht es aber über „Wellness“ hinaus,
wenn gemeinsame Rituale eingeübt und seelische Prozesse
aktiviert werden, die im weiteren Sinne auch spiritueller
Natur sein können.
Inhalte des Meditativen
Tanzes
Die
Arbeit mit Meditativem Tanz und tänzerischer
Körperarbeit, so wie sie von der Autorin durchgeführt
wird, beinhaltet das Tanzen von traditionellen Tänzen
alter Kulturen, z.B. aus Südosteuropa, Armenien,
Kleinasien und Tänzen der Roma. Ebenso kommen neue
Choreografien des Meditativen Tanzes (auch „Sacred
Dance“) nach klassischer und zeitgenössischer Musik
zum Einsatz. Der Meditative Tanz beinhaltet auch
Folkloretänze, bei denen es sich allerdings meistens um
Choreografien handelt oder um eine neue Aneinanderreihung
alter überlieferter Tanzschritte, im Gegensatz zu den
traditionellen Tänzen, bei denen es sich um alte
überlieferte originale Tanzformen handelt.
Das
Tanzen wird intensiviert durch Bewegungsmeditationen und
Elemente der Integrativen Tanz- und
Bewegungstherapie.
Tanzformen des Meditativen
Tanzes
Die
Tänze werden im Kreis, in der Spirale, Reihe und in
anderen offenen Raumformen getanzt. Wichtig ist dabei die
leichte Nachvollziehbarkeit der Tanzschritte:
„…Charakteristisch sind einfache Schritte, die für
jeden nach relativ kurzer Zeit nachvollziehbar sind.
Charakteristisch ist auch die stetige Wiederholung der
Abläufe und eine in der Wiederholung gleich bleibende
Dynamik, die eine bestimmte Stimmung entstehen lässt“
(Willke 2007). Tanzschritte und Bewegungen haben dabei
häufig eine bestimmte Bedeutung oder
Symbolik.
Der
Kreis als Symbol umfängt, birgt und bildet eine Mitte.
Im Kreis zu tanzen bedeutet, sich zu zentrieren und seine
Mitte zu finden. Viele Meditationsformen bedienen sich
des Kreises als Bild, als Raum- oder Tanzform. Als
unendliche Linie symbolisiert der Kreis auch den Himmel
und den Kosmos.
Die
Spirale zeigt sich schon in ihrem vielfachen Vorkommen in
der Natur als eine Urform allen Lebens: im spiraligen
Wachstum der Pflanzen, in Muscheln, Schnecken, selbst im
Embryo. Sie ist eines der Ursymbole matriarchaler
Kulturen, deren Weltanschauung von den zyklischen
Prozessen von Werden und Vergehen bestimmt wurde. Viele
der spiralig getanzten Tänze zeigen in ihrem Einrollen
den Weg nach innen, zum Ursprung, in die Selbstbegegnung,
mit ihrem Ausrollen den Weg in die äußere Welt, in die
Entfaltung und in die Entwicklung. Spiraltänze
sympolisieren damit gewissermaßen die Balance von
Introversion und Extraversion.
Nicht
nur im Raumweg, sondern auch in Schrittmustern und
Gebärden begegnen uns weitere archaische Symbole: das
Kreuz, Dreieck, Quadrat, der Halbmond, Zickzack-Muster
und der Lebensbaum. Welche Bedeutung können diese
Symbole für unser Leben heute haben? Ingrid Riedel,
Psychotherapeutin und Professorin für
Religionspsychologie, plädiert für ein körperliches
Einfühlen: um eine Form in ihrem ganzen Ausdrucksgehalt
wahrnehmen und verstehen zu können, brauchen wir unser
Körpergefühl, müssen wir diese Form mit dem Körper
nachtasten und nachvollziehen (Riedel 2002). Nirgendwo
vollziehen wir dies so intensiv wie im traditionellen und
meditativen Tanz.
Zyklische statt lineare
Lebensprozesse
Viele
meditative und rituelle Tänze verbinden uns mit der
Natur und den Elementen. Im Tanz erleben wir die
jahreszeitlichen Zyklen und erfahren deren Bedeutung für
unsere Lebensthemen. Beispielsweise ist der Herbstbeginn
der Übergang in die dunkle Jahreszeit: Zeit, um
zurückzuschauen, was wir in dem Jahr verwirklicht oder
auch noch nicht verwirklicht haben; Zeit, um loszulassen,
in eine ruhigere Gangart zu gelangen; Zeit zu genießen
und sich über das zu freuen, was wir erreicht haben.
Herbst ist thematisch auch der Übergang zur Phase der
Ruhe und Regeneration.
Die
Lebenswirklichkeit der aktuellen Postmoderne steht der
Verwirklichung dieser Ansätze allerdings zunächst
konträr entgegen. Wir leben in einer schnelllebigen,
reizüberfluteten und unbeständigen „beschleunigten“
Zeit, geprägt durch rasanten Wandel in allen
Lebensbereichen. Unsere heutigen Industriegesellschaften
suggerieren uns eine lineare Entwicklung: immer
schneller, immer besser, immer noch mehr Fortschritt.
Dies erschöpft sowohl unsere eigenen Ressourcen, wie
auch die Ressourcen der Erde. Traditionelle Werte und
Sicherheiten lösen sich mehr und mehr in allen
Lebensbereichen auf, in Familie, in Arbeit und Beruf, in
gesellschaftlichen Strukturen und auch im ökologischen
Sinne (Klimawandel).
Quasi
als Gegenbewegung oder Rückbesinnung entsteht aber auch
eine Sehnsucht der Menschen nach „neuen alten“
Werten, nach Beständigkeit, nach Bedeutung und Sinn,
nach Anschluss an altes tiefes Wissen oder ein
„höheres Ganzes“. Und mit dem Zwang zur
Beschleunigung entsteht ein tiefes Bedürfnis nach
„Entschleunigung“, um trotz Belastungen und Stress
nicht auszubrennen und letztlich gesund bleiben zu
können, was ja Thema dieser Tagung und des Tagungsbandes
ist.
Meditativer Tanz und traditionelle
Tänze (insbesondere die traditionellen Frauentänze)
machen in diesem Sinne immer wieder die zyklischen
Prozesse des Lebens bewusst: es gibt Rückschritte,
Innehalten, Verzögerungen, um dann weiter im Lebensfluss
zu gehen, oder die Entwicklung auf einer anderen Ebene
fortzuführen. Diese Tanzformen haben dabei gleichzeitig
eine energetisierende und eine entspannende Wirkung.
Besonders mit den traditionellen Tänzen schließen wir
uns an eine Kraft an, die weit vor uns existiert hat und
immer noch existiert. Sie vermitteln Inhalte, die in
unserer heutigen Zeit wieder an Bedeutung gewinnen. Mit
ihrer Hilfe, aber auch mit neuen meditativen Tänzen
trainieren wir zudem Achtsamkeit und Balance: wir
gelangen zu mehr Gelassenheit, die uns ausgleicht und
gesund erhält in einer schnelllebigen Zeit mit multiplen
Anforderungen, welche uns manchmal regelrecht zu
überrollen drohen.
Achtsamkeit und Balance gewinnen an
Popularität in allen Gesundheitsbereichen und in vielen
Gesundheitsprofessionen, in Medizin, Psychologie und
Psychotherapie genauso wie in der Körper- und
Bewegungstherapie.
Verbindung zwischen den Kulturen
schaffen
Tänze sind kulturelle Ausdrucksformen.
Aus dem Aufeinanderprallen unterschiedlicher Kulturen
resultieren Konflikte bis hin zu kriegerischen
Auseinandersetzungen. Die Auseinandersetzung mit Tänzen
und Musik anderer gesellschaftlicher Gruppen dagegen
ermöglicht das respektvolle kennen lernen derer Kultur
damit auch ein größeres gegenseitiges Verständnis. Der
Quantenphysiker Hans-Peter Dürr hat während seiner 50
jährigen Untersuchungen der Materie festgestellt, dass
es keine Materie gibt, sondern nur Verbundenheit –
zwischen Atomen genauso wie zwischen Menschen. Seine
Sichtweise eröffnet neue Möglichkeiten, den Dialog
zwischen den Kulturen zum Fließen zu bringen. In einem
Interview drückt er das folgendermaßen aus: „wenn man
mit anderen Kulturen in den Dialog kommt, sollte man es
meiner Ansicht nach nicht gleich mit der Sprache
probieren. Ich finde Musik und Tanz sind etwas, das viel
geeigneter ist. Wenn ich mit einer anderen Kultur getanzt
habe, bin ich viel schneller drin. Dann habe ich auf
einmal das Lied im Kopf oder ich habe die Bewegung in
mir…Das ist eine Sprache, die viel durchlässiger
ist…Ich habe auf einmal einen anderen Zugang. Ich
hoffe, dass sich die Kulturen auf diese Weise näher
kommen. …Wir brauchen eine Gesellschaft, die jedem
ihren Platz gibt. Die große Aufgabe unserer Zeit ist es,
die Intelligenz die wir haben, vermehrt der Lösung
gesellschaftlicher Probleme zu widmen“ (Dürr,
2005).
Gesundheitliche Auswirkungen auf
Körper und Seele
Meditatives und traditionelles Tanzen
wie auch tänzerische Körperarbeit haben vielfältige
günstige gesundheitliche Auswirkungen und sind geeignet
als gesundheitsfördernde und präventive Maßnahme wie
auch indikationsspezifisch im
rehabilititativ-therapeutischen Sinne. Günstige
Auswirkungen sind zunächst auf Muskulatur, Beweglichkeit
und Haltung zu erwarten: Kräftigung der Rumpf- und
Skelettmuskulatur, Rumpfmobilisation,
Bewegungserweiterung der Schultergelenke,
Tonusregulierung des Beckenbodens, Harmonisieren
muskulärer Dysbalancen und Reduktion von Verspannungen,
Ökonomisierung von Bewegungsabläufen, verbesserte
Körperhaltung und verbessertes Körpergefühl. Auch
kardiovaskulär sind günstige Auswirkungen zu erwarten.
Je nachdem, mit welcher Belastungsfrequenz das Tanzen
ausgeführt wird, kann es ein leichtes bis intensives
Ausdauertraining bedeuten. Man kann allerdings auch, wie
für Patienten mit Hypotonie angezeigt, kurze
Belastungsspitzen einbauen. Begünstigt werden die
cardio-pulmonale Leistungsfähigkeit und die Regulation
des Blutdruckes.
Weiterhin haben diese Tänze günstige
Auswirkungen auf Körperkoordination, Gleichgewicht und
Raumorientierung: durch Richtungswechsel, Bewegen auf und
in verschiedenen Ebenen und Überkreuzen der Mittellinie
kommt es zu einer verbesserten Verschaltung beider
Gehirnhälften. Stand und Spielbeinphasen, Tempowechsel
und Drehungen führen zu einer Verbesserung des
Gleichgewichtes. Merken und Ausführen von
Bewegungsabläufen und die Erfahrung verschiedener
Bewegungsqualitäten führen zu verbesserter
Körperwahrnehmung und Konzentration. Bei Schmerz und
anderen emotionalen Belastungen ermöglicht Tanzen
Ablenkung, Freude und den Erhalt bzw. die Verbesserung
von Beweglichkeit. Durch ganzheitliche wohltuende
Körpererfahrungen und soziale Kontakte werden
Sinnfindung, Stärkung des Selbstvertrauens und eine
positive Lebenseinstellung gefördert.
Im
präventiven Sinne geht es darum, Ressourcen zu erneuern,
Achtsamkeit und Körperwahrnehmung zu verbessern, ein
positives Lebensgefühl hervorzurufen und angemessener
auf Anforderungen der Umwelt zu reagieren, insgesamt also
eine Verbesserung der Lebensqualität zu
erreichen.
Bedeutung von Rhythmik und der Einfluss
von Musik
Rhythmus ist das erste, was wir im
Mutterleib „beständig“ erleben. Die Atmung, der
Herzschlag, der Gang, auch die Verdauungsgeräusche der
Mutter bieten dem Embryo eine vertraute Umgebung.
Vielleicht ist diese pränatale Erfahrung der Grund
dafür, dass viele behinderte Menschen so wunderbar auf
Rhythmus ansprechen und so begeistert damit umgehen.
Struktur und Rhythmus sind auch wichtig für
wahrnehmungsgestörte und hyperaktive
Kinder.
Für
uns Erwachsene scheint es gut und gesundheitsfördernd zu
sein, rhythmische Tagesabläufe zu haben: einen
bestimmten Schlaf- Wachrhythmus, rhythmische Abwechslung
von Arbeits- und Ruhephasen, von Stimulation und Stille.
Rhythmus wird dabei „ganzkörperlich“ aufgenommen und
ausgedrückt: bestimmte rhythmische Abläufe werden von
den Basalganglien und vom Kleinhirn gesteuert. Allerdings
scheint es ein klar umgrenztes „Rhythmuszentrum“ im
Gehirn nicht zu geben: die neurobiologische Erforschung
der Verarbeitung von Rhythmus entdeckte jedoch eine
Repräsentation eher auf der linksseitigen Hemisphäre
(Spitzer 2003).
Rhythmus und Musik gehören eng
zusammen und ergänzen sich. Musik beeinflusst unsere
Gefühle, das wissen wir alle mindestens aus dem Bereich
der Filmmusik. Als Zentrum der emotionalen Verarbeitung
gilt das limbische System. Angenehm erlebte Musik
aktiviert unser Belohnungszentrum und sorgt gleichzeitig
für eine Reduktion der Aktivität im Mandelkern (Spitzer
2003). Damit wirkt angenehm erlebte Musik im doppelten
Sinne Stress reduzierend. Musik weckt aber nicht nur
unsere Gefühle, sie erleichtert Kontaktaufnahme, dient
der nonverbalen Kommunikation, der Wahrnehmungsschulung
und der Phantasieentwicklung. Musik begleitet unsere
Bewegungen und induziert Bewegungslust und begünstigt
gruppendynamische Prozesse und
Vertrautheit.
Mit
der Kombination von Rhythmus und Musik, dem Erleben einer
sozialen Entität in gemeinsamen Bewegungsmustern und
einer geistig-spirituellen Sinngebung durch
Symbolisierungen und ethnologische Bezüge stellen
meditativer Tanz und tänzerische Körperarbeit eine
interessante und viel versprechende Ausgestaltung eines
ganzheitlichen, Ressourcen aktivierenden
Gesundheitsprogramms dar.
Literaturangaben:
Willke E. (2007) –
Tanztherapie. Theoretische Kontexte und Grundlagen der
Intervention. Verlag Huber
Riedel I. (2002) – Formen.
Tiefenpsychologische Deutung von Kreis, Kreuz, Dreieck,
Quadrat, Spirale und Mandala. Kreuz Verlag
Dürr H.P. (2005) – Die
Völker müssen einander Geschichten erzählen. Raum
& Zeit, 133, S. 18-21
Spitzer, M. (2003) - Musik
im Kopf. Hören, Musizieren, Verstehen und Erleben im
neuronalen Netzwerk. Schattauer Verlag
Copyright: Uta Böttcher
2008
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